HT 2023: „Multidirektionale Erinnerungen“ im Konflikt – Akteur:innen und Aushandlungen in vier erinnerungspolitischen Feldern

HT 2023: „Multidirektionale Erinnerungen“ im Konflikt – Akteur:innen und Aushandlungen in vier erinnerungspolitischen Feldern

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Kathrin Klausmeier / Sophia König, Universität Leipzig

Auf großes Interesse stieß die Sektion „‘Multidirectional Memories‘ im Konflikt – Akteur:innen und Aushandlungen in vier erinnerungspolitischen Feldern“, von denen krankheitsbedingt nur drei Felder in den Blick genommen werden konnten. Im vollbesetzten Saal des Stasi-Unterlagen-Archivs führte Juliane Brauer in die Sektion ein und warf mit dem Verweis auf die aktuellen geschichtspolitischen Diskurse um „multidirektionale Erinnerungen“ (Michael Rothberg) die Frage nach dem Umgang mit der Pluralisierung von Erinnerungen auf. Wem gehört welche Erinnerung und welche Geschichte ist es wert, erinnert zu werden?

Aus der deutschen Vergangenheitspolitik der 1980er- und 1990er-Jahre resultierten konstante Schwerpunkte historischen Lernens, zu denen zunächst die Erinnerung an den Nationalsozialismus, später auch die Unrechtsgeschichte der DDR und aktuell Themen aus der Kolonialgeschichte und Queer History hinzugekommen seien. Angesichts diverser Interessen konkurrieren die Erinnerungen an die letzten zweihundert Jahre Gewaltgeschichte um geschichtskulturelle Aufmerksamkeit und die Frage nach richtiger und wichtiger Erinnerung führe zu Kontroversen.

Aber, so fragte Brauer, kann man überhaupt einzelne Erinnerungen als wichtiger als andere beschreiben? Beziehen sich nicht vielmehr alle Erinnerungen aufeinander und sind multidirektional? Unter multidirektionaler Erinnerung verstehe Rothberg Erinnerungen, die ständigen Aushandlungen, Quervergleiche und Anleihen unterworfen, dabei produktiv und nicht ablehnend seien. Diesen Ansatz greifen die einzelnen Vorträge auf und diskutieren mit Blick auf Rothbergs Kritik an der Linearität von Erinnerung und Identität seine Bedeutung für historische Bildung.

ELKE GRYGLEWSKI (Celle) begann ihren Beitrag mit einer Bestandsaufnahme des Umgangs mit dem Nationalsozialismus, die sie dann mit multidirektionalen Erinnerungen verband. Die Flugblatt-Affäre um Peter Aiwanger nutzte sie als Entree für einen Rückblick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1980er-Jahren. Sie kontrastierte die Affäre mit dem öffentlichen Narrativ, in dem dieses Jahrzehnt als Phase bewertet werde, in der die Praktiken der Erinnerung an den Nationalsozialismus bereits gesellschaftlicher Konsens waren. Insgesamt zeige sich die Tendenz, die Erinnerung an den Nationalsozialismus als Erfolgsnarrativ zu charakterisieren, wobei Geschichte in (westdeutsch dominierte) Phasen eingeteilt werde. Die erste Phase des Erinnerns und Verdrängens sei abgelöst worden von der aktiveren Auseinandersetzung der 1968er-Jahre, auf die die Graswurzelbewegung folgte. In ihrem Rückblick auf die deutsche Erinnerungskultur nannte sie sowohl die deutsche Erstausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ (1979) wie auch Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung (1985) als wichtige Zäsuren. Danach, so Gryglewski, stellte die Wende eine reale Zäsur dar, die die Frage mit sich brachte, wie man mit der Geschichte der SED-Diktatur im Verhältnis zur Erinnerung an den Nationalsozialismus umgehen müsse. Dabei zeige die gegenwärtige Situation etwa durch die Wahlerfolge der AfD, dass das Erfolgsnarrativ in Frage gestellt werden müsse. Mit Blick auf die Bedeutung pluraler Erinnerungen führte Gryglewski aus, dass in den Gedenkstätten bereits ab 2000 nach Erinnerungsformen in einer vielfältigen Gesellschaft gefragt wurde. Sie merkte kritisch an, dass der wissenschaftlich-akademische Diskurs zu wenig Interesse an der praktischen Arbeit der Gedenkstätten und der dort stattfindenden Diskurse zeige und die gesellschaftliche Realität deutlich diverser sei, als es sich im akademischen Diskurs widerspiegele. Für Gedenkstätten sei der Umgang mit Heterogenität Alltag, da etwa Schulen eine wichtige Adressatengruppe seien. Daher müssen sie verschiedene Ebenen in der täglichen Vermittlungsarbeit berücksichtigen, wie eine reflektierte Haltung der Wertschätzung, die Angebrachtheit von Vergleichen und Verflechtungsgeschichten. Sie betonte, dass weder Potential noch Aufgabe von Gedenkstätten an Relevanz verloren hätten und verwies auf die Aneignung von Geschichte über die einzigartige Aura des historischen Ortes, das Gedenken an Verbrechen, die Sensibilisierung für die Gegenwart sowie die Menschenrechtserziehung. Als neuere Aufgabe nannte sie die Bedeutung von Gedenkstätten als Ort der Teilhabe, denn gerade weil der nationalsozialistische Ort für Exklusion stand, müssten Gedenkstätten Inklusion und Teilhabe repräsentieren. Sie schloss ihren Beitrag mit Vorschlägen für die Zukunft: Es gelte, Netzwerke zu stärken, in Forschungsprojekten Verflechtungen sichtbar zu machen und eine stetige Reflexion der Inhalte sowie der eigenen Haltung.

JULIANE BRAUER (Wuppertal) räumte zu Beginn ihres Beitrags ein, dass sie die Erinnerung an die DDR bis vor kurzem in einer gesetzten, differenzierten Konsolidierungsphase gesehen habe. Diese Ruhe habe sich nicht zuletzt durch Dirk Oschmanns polarisierenden Bestseller „Der Osten. Eine westdeutsche Erinnerung“ als trügerisch erwiesen. Brauer führte drei aktuelle Beobachtungen aus: (1) Unabhängig von Gedenkjubiläen würden innerdeutsche Sektionen tagesaktuell mit dem Ziel abgrenzender Identitätszuschreibung debattiert, um die eigenen Erinnerungen an die „Nachwendezeit“ mit Deutungsmacht zu versehen. (2) Diese Diskussion finde im Fahrwasser der Postkolonialismus-Debatte statt, ohne deren Grundidee aufzunehmen. Hierbei erfolge vielmehr eine Umkehr, denn eigentlich sei der ursprüngliche Impuls das Hinterfragen gewesen, wie sehr Erinnerungspolitik mit Hierarchien versehen war und dass Erinnerung nicht notwendigerweise Exklusion oder Inklusion sein müsse. Genau Letzteres sei zusammen mit der Deutungsmacht Ziel Oschmanns. Damit einhergehend sei aber festzustellen, dass (3) die Debatte um die Geschichte der DDR vereinfacht werde. Dies führe zu mehr Aufmerksamkeit und Polarisierung. Ein Beispiel hierfür sei Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“. Es zeige sich ein Mangel an Willen, Komplexität zu ertragen.

Nun sei zu fragen, warum sich diese Tendenzen gerade jetzt zeigen. Brauer äußerte die These, dass Erinnerung besonders in Krisenzeiten eine Stellvertreterfunktion der Stabilisierung ausübe. Sie wolle untersuchen, ob das Konzept der multidirektionalen Erinnerung erklärendes Potential habe und inwieweit sich hierdurch Ideen für eine produktive Erinnerung gewinnen ließen. Erinnerungen, so Brauer, seien hochgradig emotional und individuell, aber auch reflexiv, veränderlich und gegenwartsbezogen. Erinnerung sei daher ein Hybrid, zugleich individuell wie auch an kollektive Gedenkpraktiken gebunden und somit identitätsstabilisierend. Brauer beschrieb die Friktion, die entstünde, wenn kollektives und individuelles Erinnern nicht in Einklang seien und arbeitete in Abgrenzung zu Rothbergs Ansatz die Verbindung zwischen Erinnerung und Identität heraus.

In den Phasen der DDR-Erinnerung habe in den 1990er-Jahre habe das „Diktaturgedächtnis“ nach Sabrow dominiert, ohne dabei widersprüchliche Emotionen wie Unsicherheit oder Empörung in die öffentlich inszenierte Identifikationsangebot zu integrieren. Beispielhaft nannte sie hier die Stimmen der ehemaligen Vertragsarbeiter:innen wie auch die Erfahrungen rassistisch motivierter Gewalt.

Die 2000er-habe ein neues Selbstbewusstsein ausgezeichnet. Die sich seit den 1990er-Jahren anbahnende Ostalgie sei etablierter Teil der Popkultur geworden. Spaß mit der DDR-Geschichte schien nunmehr möglich, ebenso eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem DDR-Alltag. In den 2010er-Jahren als Phase der Stabilisierung habe die Forschung von einer Perspektiverweiterung und einer Einbettung in europäische Geschichte profitiert. Auch die „Geschichte der stummen Gruppen“ und der „Baseballschlägerjahre“ habe man zunehmend aufgearbeitet und verschiedene Positionen austariert. Den gegenwärtigen Erinnerungskonflikt charakterisierte sie als Ausdruck einer krisenbehafteten Zeit, in der Geschichte als knappe Ressource wahrgenommen werde. Man sei durch diesen Kampf um Deutungshoheit und Identität nun dort, wo Michael Rothberg nicht sein wollte, wenn Erinnerung zum Identitätskonflikt wird. Um Polarisierungen entgegenzutreten, plädierte sie für einen Blick auf Konjunkturen der DDR-Erinnerung und deren Kontextualisierung. Sie forderte eine Pluralisierung der Erinnerungspraktiken statt einer DDR-Meistererzählung, die auf integrative Weise Brüche und Kontroversen zulasse und Leerstellen sichtbar mache.

Den Fokus auf migrantische Perspektiven legte LALE YILDIRIM (OSNABRÜCK) mit ihrem Beitrag. Sie legte begriffsgeschichtlich dar, dass der Volksbegriff mehr als nur ein Synonym für Menschen in einer bestimmten Region sei. 1989 habe sich der Ausruf „wir sind das Volk“ schnell zu „wir sind ein Volk“ entwickelt. Migrantisierte Personen seien von diesem „einen Volksereignis” ausgeschlossen worden. Der Volksbegriff diene fortwährend nicht nur der Selbstzuschreibung, sondern auch der Exklusion einzelner Gruppen. 1989 sei eine spürbare Zäsur– “nicht nur für politische Umschwünge, sondern auch für den ungehemmten Ausbruch menschenfeindlicher Gewalt”.

Die Frage sei nun, welche Anforderungen an Zugehörigkeit gestellt würden. Ausgehend von Erwartungen an migrantische Schüler:innen skizzierte sie die angemessene Auseinandersetzung mit dem Holocaust als das gesellschaftliche Entreebillet. Yildirim stellte dahinterstehende Ansprüche und eine darauf beruhende Konstruktion des Wirs zur Diskussion und fragte zugespitzt: Was verlangt eine Gesellschaft mit Nazi-Hintergrund von Menschen ohne Nazi-Hintergrund? Zwar sei eine solche Pauschalisierung und negative Zuschreibung kritisch zu sehen, aber mache dies die deutsche Mehrheitsgesellschaft auch durch die Zuschreibung eines Migrationshintergrundes, wobei dieser Vergleich bei der Zuhörerschaft Diskussion auslöste. Yildirim fragte weiter, was es bedeute, wenn die weiß-deutsche Gesellschaft von Migrantisierten eine angemessene Erinnerung und Verantwortung für die Zukunft aus der Erfahrung der NS-Vergangenheit verlange? Yildirim kritisierte hier das moralische Machtgefälle und die Selbsterhöhung, indem die weiße Mehrheitsgesellschaft als “Nachfahren der Täter:innen” sich über die “Nachfahren der Nicht-Täter:innen” stellten. Menschen, die sonst vom gesellschaftlichen „Wir“ ausgeschlossen werden, sollen sich angemessen mit einem Präzedenzfall des Zivilisationsverlusts auseinandersetzen und identifizieren, an dem selbst die Nachfahren der Täter:innen scheiterten. Yildirim gibt zu bedenken, dass das gesellschaftlich akzeptierte „Wir“ immer noch auf einem Volksgedanken fuße, der eine gemeinsame Abstammung beinhalte.

Darüber hinaus eröffnete Yildirim die wichtige Frage, wie und ob man überhaupt sinnbildend mit den Gräueltaten des NS umgehen könne. Grundlage ihrer Ausführungen war an dieser Stelle Rüsens Verständnis von Geschichtsbewusstsein als Sinnbildung über Zeiterfahrung, wobei sie argumentierte, dass die Sprache des historischen Sinns bei dieser radikalsten aller Krisen, die traumatisierend sei, verstumme. Als Strategie der Enttraumatisierung nannte Yildirim in Anlehnung an die kulturwissenschaftlichen Debatten der Jahrtausendwende eine sekundäre Traumatisierung, die die Sinnlosigkeit zum Element des historischen Sinns mache.

Der Nachfrage, wie nun ein angemessener Umgang mit der deutschen Vergangenheit möglich sei, entgegnete sie mit dem Verweis, dass Nationalgeschichten traditionale Meistererzählungen seien, die Machtstrukturen weiterführen und für Nichtweiße keine Identifikationsangebote anbieten würden. Dies zeige sich besonders deutlich in den Erwartungen an ein angemessenes Erinnern an den Holocaust. Ferner würden Studien zum Geschichtsunterricht belegen, dass dieser als exkludierend und rassistisch wahrgenommen werde.

In der anschließenden, mitunter emotionalen Diskussion betonte Elke Gryglewski, wie wichtig eine reflexive Haltung bei Lehrkräften und die Überprüfung eigener Deutungsmuster sei. Allein das Narrativ, dass postmigrantische Gesellschaft eine Herausforderung sei, sei bereits eine problematische Kategorisierung. Zwar habe man lange den Fehler gemacht, von einer homogenen Adressat:innengruppe auszugehen, diese habe aber nie existiert. Sie wandte sich jedoch auch kritisch an den vorangegangenen Beitrag und merkte an, dass sie Kategorien wie Nachkommen von Täter:innen und Nicht-Täter:innen angesichts der zeitlichen Distanz nicht für zielführend halte. Yildirim erklärte, dass es sich bei dieser Begrifflichkeit lediglich um eine Replik handele, denn bei Migrationshintergrund erfolge die Zuschreibung ebenfalls trotz der zeitlichen und generationalen Distanz und verwies damit auf problematische Konstruktion von Migration. Brauer plädierte für eine Abkehr von einer stark moralischen Haltung und dafür, den Raum zu öffnen und zu fragen, welche Interessen den Holocaust betreffend auch in einer heterogenen Gruppe formuliert würden.

Abschließend wurde die Frage diskutiert, was das Konzept der multidirektionalen Erinnerung in welchen Zusammenhängen nützen würde. Lale Yildirim räumte hierzu eine gewisse Ambivalenz ein: Multidirektional müsse man natürlich vorgehen, dann aber auch konsequent. Elke Gryglewski erörtere, multidirektionale Erinnerung sei vor allen Dingen als Haltungsfrage zu sehen und man müsse Perspektiven anderer Erinnerungen gegenüber offen sein. Die Sektion, so resümierte Juliane Brauer, brachte hier womöglich eher neue Fragen als Antworten. Insgesamt kann sie damit als Auftakt neuer Überlegungen gewertet werden, die mit der Sektion zweifellos Einleitung gefunden haben.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Juliane Brauer (Wuppertal) / Martin Lücke (Berlin)

Einleitung: Juliane Brauer (Wuppertal)

Elke Gryglewski (Celle): Erinnern an Nationalsozialismus und Shoah heute

Juliane Brauer (Wuppertal): DDR-Geschichte(n) kontrovers

Martin Lücke (Berlin): Queere Erinnerungen und die Emanzipation des Opferbegriffes

Lale Yildirim (Osnabrück): Erinnerung zwischen „Ihr seid nicht das Volk“ & „Wir sind auch das Volk“

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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